EU-Staaten kippen Nulltoleranz

Der Ständige Ausschuss der EU für die Lebensmittelkette und Tiergesundheit hat gestern mit qualifizierter Mehrheit für einen Vorschlag der EU-Kommission gestimmt, der gentechnische Verunreinigungen in Futtermittelimporten zulässt. Nach Angaben der Initiative Campact haben in dem Ausschuss, in dem alle EU-Mitgliedsstaaten vertreten sind, nur Frankreich und Ungarn für den Erhalt der Nulltoleranz gekämpft. Nun fürchten die Gentechnik-Kritiker um die Nulltoleranz bei Lebensmitteln und Saatgut

Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner habe das Versprechen ihrer Partei, für eine Landwirtschaft ohne Gentechnik einzutreten, in Brüssel missachtet, kommentierte Campact das deutsche Abstimmungsverhalten im Ausschuss. „Die Verbraucher, denen sie nach dem Dioxin-Skandal strenge Vorgaben für die Futtermittelindustrie versprach, hat sie herbe enttäuscht.“ 77.600 Aktivisten hatten in den letzten Tagen die Ministerin online aufgefordert, gegen die Pläne der EU-Kommission zu stimmen. Noch deutlicher kritisierte Greenpeace-Campaignerin Stephanie Töwe die Ministerin: „Es ist unfassbar, dass hier vor einer Industrie wie der Futtermittelbranche, die so viel Dreck am Stecken hat, gebuckelt wird. Gerade vor dem aktuellen Dioxin-Skandal hätte Ministerin Aigner jetzt die Chance gehabt zu zeigen, dass sie auf der Seite der Verbraucher steht. Stattdessen macht sie sich zum Hampelmann der Agrarlobby.“

Diese nun abgesegneten Pläne erlauben es, dass Futtermittel wie Sojabohnen oder Maiskleber bis zu 0,1 Prozent an gentechnisch manipulierten Pflanzen (GVO) enthalten dürfen, die in der EU nicht als Futtermittel zugelassen sind. Bisher wurden solche Importe abgewiesen, sobald nur die Spur eines nicht zugelassenen GVO nachzuweisen war. Ein solcher Nachweis ist auch weit unterhalb einer Konzentration von 0,1 Prozent möglich. Der europäischen Agrar- und Futtermittelindustrie war diese Regelung ein Dorn im Auge. Denn in den USA und Südamerika werden neue Gentech-Sorten ohne aufwändiges Verfahren für den Anbau zugelassen, während der Vorgang in der EU Jahre dauern kann. Deshalb kommt es immer wieder vor, dass Futtermittellieferungen aus Übersee mit nicht zugelassenen GVO verunreinigt sind. Die Lobbyisten der Agrarindustrie malten jahrelang das Schreckensszenario einer Futtermittelknappheit in Europa an die Wand. Tatsächlich wurden in den letzten Jahren nur wenige Schiffsladungen zurückgeschickt, auch deshalb, weil die Kontrollen auf Verunreinigungen sehr sporadisch sind. Insgesamt importiert die EU jedes Jahr rund 50 Millionen Tonnen Futtermittel.

Mit dem Beschluss haben die EU-Staaten eine Verordnung abgesegnet, die von der Kommission in Kraft gesetzt werden wird und für alle Mitglieder verbindlich ist. Lediglich das EU-Parlament könnte dies noch verhindern, indem es innerhalb der nächsten drei Monate ein Veto einlegt. Doch damit sei aufgrund der konservativen Mehrheit nicht zu rechnen, heißt es bei Campact. Nicht nur dort fürchtet man, dass nun auch die Nulltoleranz bei Lebensmitteln und Saatgut in Gefahr ist. Würden für diese Bereiche die gleichen Regeln gelten, wie künftig für Futtermittel, hätte dies Folgen: Skandale der letzten Jahre wie die Verunreinigung von Reis (2006), Leinsamen (2009), Maissaatgut (2010) wären keine mehr. Sie wären dann legal.

Der Bio-Anbauverband Naturland bezeichnete die Entscheidung der EU als einen herben Rückschlag für die nachhaltige, ökologische und gentechnikfreie Landwirtschaft. Steffen Reese, der Geschäftsführer Naturland, sagte: „Durch die Hintertür wird mit Schwellenwerten eine schleichende Verunreinigung mit GVO-Pflanzen gegen den Willen der Verbraucher akzeptiert! Damit wird die Chance der EU, sich mit gentechnikfreien Produkten auf dem Markt zu platzieren, aufs Spiel gesetzt. Naturland hat dieses Jahr mit der Wissenschaft ein Forschungsprojekt gestartet, bei dem der Anbau und die Zucht von Sojapflanzen in Deutschland untersucht und gefördert wird. In Kombination mit der Förderung weiterer einheimischer Eiweißpflanzen, wie Ackerbohnen, Lupinen und Erbsen muss die Unabhängigkeit von Futtermittelimporten voran getrieben werden.“

Auch der Anbauverband Bioland hat die Entscheidung zur Aufhebung der Nulltoleranz kritisiert. Es sei besonders bedauerlich, dass auch Deutschland im Ausschuss dafür stimmte, dass importierte Futtermittel bis zu einem Grenzwert von 0,1 Prozent gentechnisch veränderte Organismen (GVO) enthalten dürfen, die in der EU nicht zugelassen sind. „Mit der Aufweichung der Nulltoleranz kapitulieren EU-Kommission und Landwirtschaftsministerin Aigner vor der Gentechnikindustrie und missachten den Willen der Bevölkerung. Die Wahlfreiheit der Verbraucher wird so peu à peu ausgehebelt“, so Thomas Dosch, Präsident von Bioland.